Das Silvrettagebirge ist beliebt bei Wanderern, Bergsteigern und Skitourengängern. Einige der Dreitausender wie Piz Buin, Dreiländerspitze oder Jamspitze sind relativ leicht erreichbar und bieten spektakuläre Ausblicke bis in die Westalpen hinein. Um den vielen Besuchern der Gebirgsgruppe Platz zu bieten gibt es große Hütten wie die Wiesbadener Hütte oder die Jamtalhütte mit Platz für über 180 Personen. Etwas ruhiger geht es hier wahrscheinlich nur nachts oder bei Schlechtwetter zu. So richtig mag dieser Aspekt unsere Gruppe aber nicht unter dem großen Vordach am Gasthof auf der Bielerhöhe hervorlocken. Immer wieder kommen neue Regenschauer, bis es endlich etwas heller wird und wir den Zustieg entlang des Stausees Richtung Wiesbadener Hütte angehen können. Zum Glück bleibt es die meiste Zeit trotz verhangenem Himmel einigermaßen trocken und 2,5 Stunden später ist die fast voll besetzten Hütte erreicht. Nach dem Abendessen geht es an die Planung des nächsten Tages. Es soll auf die Hintere Jamspitze gehen, größtenteils über flache Gletscher mit einem kurzen steileren Aufstieg zum Grat.
Am nächsten Morgen sind wir nicht die einzigen, die vor dem Abmarsch unter der überdachten Terrasse vor der Hütte Schutz suchen vor den Graupelschauern. Uns kommt der Verdacht, dass solche Vordächer in der Silvretta möglicherweise öfter gebraucht werden als in den anderen Gebirgsgruppen. Der Niederschlag lässt irgendwann dann doch etwas nach und wir machen uns auf Richtung Ochsengletscher, auf dem einige Zentimeter Neuschnee liegen. Vor der Ochsenscharte, dem Übergang Richtung Jamtalhütte, zieht bei Wind und leichtem Schneefall zunehmend Nebel auf und die Sicht wird schlechter. Anna aus Donezk in Russland, die ihren Onkel in Deutschland besucht und so auf die Tour aufmerksam wurde, ist die Jüngste in der Gruppe und zum ersten Mal auf einem Gletscher unterwegs. Sie kämpft etwas mit stollenden Steigeisen, ist aber begeistert, zum ersten Mal in ihrem Leben im Hochgebirge unterwegs zu sein.
Als wir in den Kessel unter der Jamspitze kommen und den tief verschneiten felsigen Aufschwung zum Grat sehen, wird klar, dass bei diesen winterlichen Bedingungen ein Weitergehen zu heikel wäre und wir umkehren müssen. Auch wenn die Wettervorhersage am unteren Ende des Prognosefensters liegt, war uns schon vor der Tour klar, dass dieser Tag wahrscheinlich nicht viel hergeben würde. Wir hoffen auf den kommenden Tag, der nach allen Prognosen sonnig werden soll. Tatsächlich wird das Wetter schon auf dem Rückweg zur Hütte besser. Bei der Rast auf der Hütte kommt die Idee auf, noch einen kleinen Gipfel zu versuchen. So macht sich eine kleine Gruppe auf zum knapp 2 Stunden entfernt gelegenen Ochsenkopf (3057m). Über einen schmalen Wanderweg und die Reste des Tiroler Gletschers erreicht man zunächst die Tiroler Scharte. Die dort ansetzenden Geröllfelder auf den Ochsenkopf wirken auf den ersten Blick zwar etwas unzugänglich, man kann sich dann aber dann doch recht gut an vereinzelten Wegspuren orientieren. Nach einer leichten Kletterstelle erreicht man den Gipfel mit einer tollen Aussicht hinunter auf die Schweizer Seite und stellt fest, dass es auch in der Silvretta noch ruhige Ecken in wilder Landschaft gibt.
Am Abend singen wir Anna ein Geburtstagsständchen. Auch wenn sie am nächsten Tag am Piz Buin wahrscheinlich überfordert wäre und auf der Hütte bleibt, ist sie beeindruckt von den Bergen und freut sich schon auf den nächsten Besuch hier.
Schon der erste Blick aus dem Fenster am nächsten Morgen zeigt, dass uns ein herrlicher Tag am Piz Buin erwartet. Wir hoffen, dass sich der Neuschnee des Vortags gesetzt hat und die Route gespurt ist. Am Tag zuvor hatten nur wenige Bergsteiger im Schneetreiben den Gipfel erreicht. Auch dieser berühmteste Berg der Silvretta bleibt nicht von den Folgen des Klimawandels verschont. Die Gletscher sind kürzer und steiler geworden, dadurch musste inzwischen auch die Zustiegsroute von der Hütte zum Gletscher geändert werden. Die ehemals viel gerühmte Kletterei über das Wiesbadener Grätle ist inzwischen gar so brüchig, dass es sich nur noch mit viel Risiko begehen ließe. Eindrucksvoll ist die Tour über den verschneiten, spaltenreichen Ochsentaler Gletscher aber auch heute noch. Wir gehen in zwei Seilschaften. Axel Schlönvogt, der schon auf dem K2 stand, übernimmt als angehender Fachübungsleiter die eine Seilschaft, während der Rest in etwas gemütlicherem Tempo folgt.
An der Ochsentaler Scharte angelangt, baut sich das Gipfelmassiv steil auf. Zunächst über eine Geröllspur, dann im Fels über verschiedene kaminartige Rinnen gehen und klettern wir nach oben, bis sich die Hänge wieder flacher werden und bald auch der Gipfel mit seiner fantastischen Aussicht bis in die Bernina hinein erreicht ist. Eine ganze Weile bleiben wir am gut gefüllten Gipfel, bis es vorsichtig und an den schwierigeren Stellen über Bohrhaken gesichert durch die leicht verschneiten Felsen und Flanken an den Abstieg geht.
Der Abstieg über den Gletscher führt wieder durch das Gewirr der Gletscherspalten und die selbst bei aperen Verhältnissen letztlich recht harmlose Steilstufe zu Beginn des Gletschers. Etwas spannend ist zum Schluss noch die Querung des Bachs unterhalb des Gletschers mit seinen am frühen Nachmittag überfluteten Hüpfsteinen. Bald ist die die Hütte mit ihrer großen Sonnenterrasse erreicht. In der strahlenden Sonne gleitet der Blick nochmal über Germknödel und Kaltgetränke hinweg hoch zum Piz Buin. Ein toller Tag für uns alle, es hat sich gelohnt, hierher zu kommen, trotz der anfangs noch ungünstigen Wetterbedingungen.
Jochen Dümas