Gleich mehreren Zufällen ist zu verdanken, dass wir an diesem Wochenende im August die Traverse Ecandies-Überschreitung machen. Schon einmal musste sie verschoben werden. Jetzt aber endlich ist es soweit. Wir sichern nach den ersten spannenden Seillängen am Stand auf dem schmalen Grat, tief unterhalb der Wände schimmert der Gletscher. Vor uns wartet der Sprung über die Engels-Scharte, der „Saut d´angle“. In einer Beschreibung im Internet heißt es, der Sprung sei beeindruckend, aber nicht schwierig. Hier, wo direkt neben den Füßen beiderseits steile Wänden abfallen, kann ich dem allerdings nicht wirklich zustimmen. Ich fühle mich nicht wohl, die Sicherheit gebende Drei-Punkt-Kletterregel aufzugeben und mich auf dem schmalen horizontalen, schräg geneigten Grat aufzurichten; muss mir eingestehen, dass ich wohl dummerweise mal wieder meine Engelsflügel vergessen habe, um entspannt über diese tiefe Scharte im Grat flattern zu können. Anstatt dessen…
Aber machen wir erst einmal einen Sprung zurück in den Juli. Damals klappte es nicht mit der Tour, weil ein Teilnehmer sich zuvor verletzt hatte und Hans-Peter als Lehrer nach dem Corona-Lockdown einen neuen Stundenplan bekam, der kein verlängertes Wochenende mehr zuließ. Für August war dann eine Tour ins Bergell ausgeschrieben, mit den 21 Seillängen des Gervasutti-Südgrats auf die Punta Allievi und einer kürzeren Tour am letzten Tag. Norbert hatte sich für die kürzere Tour angemeldet, der große Klassiker auf die Allievi, einer der schönsten Klettertouren der Alpen, blieb aber ohne Anmeldung. Da inzwischen Sommerferien waren, ist HP, der sich nicht sicher war, ob er der Gervasutti gewachsen wäre, mit im Boot und wir fahren als Ersatztour zu dritt ins Wallis. In Praz de Fort wartet an der Jardine Traverse eine schöne 6 SL-Tour über einen Kalkgrat zum Einklettern auf uns, bevor es abends auf einen Sprung in den Bergsee von Champex-Lac und dann zur Zeltwiese neben dem Alpengasthof im Arpettetal geht. Weit oben am Ende des Tal sieht man am Horizont schon unser Ziel, den mit einigen Türmen gespickten Grat der Aiguille Ecandies.
Die Ecandies-Überschreitung wird in einem Auswahlführer über die schönsten Touren des Mont Blanc-Gebiets als eher kurze Tour beschrieben. Das mag vielleicht im Vergleich zu den ganz großen Routen im Mont Blanc-Gebiet gelten. Der Sportkletterer, der sich nach mehr als 3 Stunden Zustieg und fast 1200 Höhenmetern über das letzte Geröllfeld zum engen Col Ecandies hinauf kämpft, sieht das aber wahrscheinlich etwas anders. Was sich da vor einem auftürmt, sieht spektakulär, steil und alles andere als kurz aus. Norbert fühlt sich heute nicht ganz fit, schon der Anblick des Grats fordert ein bisschen den Glauben an die eigenen Kräfte heraus. Er lässt den langen Anstieg Tour genug sein und macht sich einen schönen Tag hinab ins sonnige Tal. Eine andere Seilschaft macht vor dem Einstieg ebenfalls einen Rückzug, so dass wir nur eine Seilschaft vor uns haben. Nach 3 Metern zum Warmklettern bietet uns der Berg seinen Kaltstart in einer steilen 5b-Verschneidung. Immerhin ist die Stelle gut gesichert über den ersten von insgesamt 10 Zwischensicherungs-Bohrhaken in der Route. Nachdem wir die ersten drei Türme des Grats überwunden haben und am 4. Turm vorbeigeklettert sind, öffnet sich vor uns die scharfe Rippe des Rasoirs, der Rasierklinge, an der wir nun hochhangeln wollen. Die senkrechte Schuppe, zur der man aus wackeliger Position überstreckt nach oben greift, ist die erste von zwei 6er-Passagen der Tour und fühlt sich erst nach “oh je, wie soll man das denn halten” an. Je weiter man sich aber gegen die glatte, trittlose Wand hinaus lehnt, hoch über eine Gletscherlandschaft, die im Winter Teil der legendären Haute Route ist, desto mehr Zug und Körperspannung bekommt man aufgebaut, zumal die Schuppe nach oben zunehmend griffiger wird. Hans-Peter steigt die Seillänge souverän nach. Keine Frage, Kletterkönnen, Ausdauer und Oberarmmuskel hätten bei ihm ausgereicht für die Punta Allievi.
Für manche gefühlt eine weitere Schlüsselstelle dürfte das Abklettern auf der anderen Seite dieses Turms sein. Nur eine 3; allerdings ist hier eine recht steile, nicht absicherbare Platte abzuklettern. 7 Meter oberhalb des Bohrhakens, erfordert das zumindest für den Seilzweiten etwas Nerven und Vertrauen. Der Grat wird nun wieder horizontal und schon bald steht man vor diesem berühmten Sprung über die Engels-Scharte. Auch wenn man in den Beschreibungen meist liest, dass der Sprung obligat sei, lässt er sich mit einmal Abseilen und einer Querung unterhalb der Scharte recht einfach umgehen. Mit dieser Alternative vor Augen will ich mir den Stress eines kaum absicherbaren Sprungs dann doch nicht antun, schließlich bin ich ja auch nur Fachübungsleiter für Hochtouren, nicht für Hochsprung. Gut zu wissen aber, dass die seltsamen Sprungboulder in der Boulderhalle manchmal doch Training für echten Fels sein können. Die zwei Franzosen über uns hüpfen jedenfalls ohne mit den Flügeln zu zucken darüber, wahre Berg-Engel halt.
Noch zwei Türme stehen vor uns. Die zweite Schlüsselpassage über den steilen ersten Turm könnte man seitlich über eine 5- umgehen. Man würde dadurch aber eine grandiose lange Seillänge verpassen, in der man sich mit dem ganzen Körper in steilen Schuppen, Rissen und Verschneidungen verklemmen darf. Am Ende der Verschneidung steht man vor der Querung in eine Rinne auf einem abschüssigen Tritt, umklammert mit beiden Armen einen schmalen Felszahn und versucht, eine Bandschlinge oberhalb als Zwischensicherung über den Felszahn zu schwingen. Wer das vor der Tour üben möchte, kann sich einfach mal an seinen Partner hängen und versuchen, eine Schlinge über ihn zu platzieren. Bevor es zu Missverständnissen kommt, am besten aber vielleicht davor aufklären, was Sinn der Aktion ist.
Als wir bald danach am Gipfel abklatschen, ist schon später Nachmittag. Der Blick auf die gegenüberliegenden Hochgebirgsketten Richtung Mont Blanc ist beeindruckend. Neben den ganz großen Bergen wie Aiguille Argentière, Aiguille Chardonnet und Aiguille Verte begleitet uns die gesamte Tour schon der Blick auf die Gletscher unterhalb der Aiguille du Tour, zu der wir vor 8 Jahren mal auf Hochtour unterwegs waren. Bis wir abgeseilt sind an den Fuß des Grats und das lange Tal zurück zur Zeltwiese abgestiegen, ist es fast dunkel. Als wir beim Abendessen auf der Campingwiese hochschauen auf die Berge, schimmert unser Berg wieder leicht am Horizont. Noch am nächsten Tag in den Kalkplatten von Pierre du Moelle, als auch Norbert sich im Vorstieg in den Wasserrillen mal austoben kann, denken wir zurück an diese wunderbare Bergwelt hoch über Champex.